18.
Mit einem Gruß aus
der 6. Welt erreicht euch hier eine sehr
handfeste Geschichte, die mit einer Menge Schnee
aufwartet, und der Farbe Orange auch
einen Platz unterm Weihnachtsbaum einräumt.
Unser User fUHUx schickt euch damit mit
besten Grüßen in den 4. Advent 
Weiße Weihnacht„So, ich weiß immer nicht, wie ich anfangen soll, also mach ich es mir da mal einfach, und frag mal, hehe... was genau suchst du denn?“ Der schlaksige, kleine Ork war vielleicht zwölf Jahre alt, entsprach also etwa dem Bild eines jungen, ziemlich ungepflegten Erwachsenen, der für seine Spezies vergleichsweise eher mager ausgestattet war, was Muskelmasse und physische Imposanz betraf. „Antidepressiva, Beruhigungsmittel, Schlaftabletten...“ Der Ork ließ eine buschige Augenbraue in die Höhe wandern. „Ey, Opa, jetzt hör mal zu, dafür kannst du auch in die Apotheke...“ „Nicht für das verschreibungspflichtige Zeug“, entgegnete Jack mit leichten Anzeichen von Verärgerung. Wenn der vorlaute Drekhead die Manhunter in seinem Gürtelholster noch nicht bemerkt hatte, war er es auch nicht wert, dass man ihn weiter provozierte. „Außerdem eine ganze Ladung Schnee, sagen wir, für fünftausend“, ergänzte er noch und beobachtete mit wachsender Belustigung, wie ein wenig die Farbe aus dem Gesicht des Dealers wich. Nicht jedes Straßenkind griff auf derartige Mengen zurück. „Sollen wohl weiße Weihnachten werden, hm?“, meinte der Ticker scherzhaft. „Okay, gib mir einfach noch mal eine Liste und zwei Tage Zeit, ja? Hälfte im Voraus.“ „Natürlich.“ Jack griff in die Tasche seiner abgetragenen, grauen Militärjacke und reichte dem Ork einen zwischen zwei Fingern eingeklemmten länglichen Stab. „Die Liste ist auf dem Credstick, genauso wie eine Nummer, bei der du dich melden kannst, und eine Vorauszahlung von zehn Prozent. Und jetzt mach dich an die Arbeit.“ Der Dealer machte ein Gesicht, als hätte der ältere Mann ihm gerade auf die zerfledderten Skateschuhe uriniert. „Sagte ich nicht die Hälfte?“ Jack legte den Kopf schief. „Viel zu hohes Risiko bei diesen Summen. Ich kenn dich ja nicht mal.“ Die Aussage war zwar eine Lüge, aber es war seine Art, neue Kontakte zu testen. „Außerdem interessiert niemanden, was du zu sagen hast. Komm, wenn du dich beeilst, gibt es vielleicht einen Bonus für guten Service. Und jetzt Abmarsch, ich hab noch was zu erledigen.“ Er machte noch eine wedelnde Handbewegung, um dem Ork zu verstehen zu geben, dass er verschwinden sollte, und konzentrierte sich auf die Kanäle seines Neuralinterfaces, um seinen Wagen anzuweisen, ihn zum Containerhafen in Everett zu bringen.
„Guten Tag Sir, verzeihen Sie die Störung. Jack Anderson, ZQ Logistics. Ich soll hier eine Sonderlieferung in Empfang nehmen.“ Jack strich sich den schlicht sitzenden Anzug glatt. Die sich langsam aber sicher an seinem einstig trainierten Körper bildenden Notfallrationsschichten forderten, vehement an Gürtel und Nähten pressend, mal wieder ein wenig mehr sportliche Abwechslung und seltenere Mittagspausen bei McHugh's. Der Vorarbeiter des Docks, ein fleischiger Zwerg mit einem halben Dutzend Kabeln, die an verschiedenen Stellen seines kahlrasierten, im kalten Licht einer einzelnen Glühbirne glänzenden Kopfes endeten, verlangsamte seine Kaubewegungen auf ein Maß, bei dem selbst normale Menschen Aggressionen entwickeln würden, überlegte kurz und nickte dann, ohne dass sich seine wahnwitzig in der Augmented Reality hin und her flitzenden Augen ein einziges Mal auf Jack gerichtet hätten. „Kennung des Containers?“, fragte er, und Jack ärgerte sich ein weiteres Mal, dass nicht nur er, sondern auch sein Chrom verdammt alt für den Job waren. Nichts von dem neumodischen Zeug, das man mit einem kleinen Fokus der Gedanken einfach abschaltet, damit man die Welt in der Geschwindigkeit von ungeboosteten Normalos wahrnehmen konnte. Nein, Jack beobachtete mit nervenaufreibendem Detailgrad, wie die Lippen des Pumilionis bei jedem Laut, der seiner soybiergespülten Kehle entschallte, an den Reihen schmutzverkrusteter Zähne entlang schwabbelten und einen Nebel feinen Speichels in der Luft und auf dessen schmutzigem Bart verteilten.
„Ist hier drauf, zusammen mit dem üblichen Honorar“, meinte Jack zerknirscht, langte mit einer flinken Bewegung in sein Jackett und reichte dem Vorarbeiter einen Credstick. Dieser wiederum gab ihm einen kleinen Chip.
„Folgen Sie dem Wegweiser in der AR. Verlassen Sie das Gelände danach über den Wartungszugang in Abschnitt B32. Ich hab Sie nie gesehen, wenn jemand fragt.“
„Vielen Dank, einen angenehmen Tag noch.“
„Jo, Ihnen auch.“
Jack folgte dem leuchtenden Hinweismarker, der sich in der virtuellen Überlagerung der Realität vor ihm abzeichnete, die drohnenbetriebenen Verladestationen der einlaufenden Frachter entlang. Einige äußerst kältebeständige Möwen, die sich beharrlich weigerten, an der Smogwolke zu ersticken, die regelmäßig aus den nahegelegenen Industriegebieten quoll, kreischten vielstimmig erbost und kreisten über der arbeitsamen Szenerie, begierig und doch vergeblich, zwischen dem all dem Stahl etwas Essbares zu erspähen. Er hielt auf einen etwas abseits stehenden, von Salzkrusten und Rost bedeckten Container zu, dessen allmählich abblätternde Farbe man wohl am ehesten mit giftigem Abfall vergleichen würde. „Endlich frische Luft!“, rief das Mädchen darin erleichtert, als Jack den Zahlencode auf dem Magschloss eingab und die Tür öffnete. Innen hatte der Container eine spartanische Einrichtung, die an ein Sarghotel erinnerte. Die kombinierten Geruchsnoten menschlicher Ausdünstungen der letzten zwei Wochen wehten ihm entgegen. Die Kleine sah verlottert aus, aber er wusste, dass sie da, wo sie herkam, weit schlimmere Konditionen überstanden hatte. „Willkommen in Seattle, Alice, hattest du eine gute Fahrt?“ „Sehr witzig“, antwortete sie missmutig, griff sich ihren Rucksack und trat aus der stählernen Reisekapsel. Jack hob gleichgültig die Schultern. „Die meisten Schmuggler haben eben keine Business Class. Na komm, sehen wir zu, dass du unter eine Dusche kommst, die auch Wasser und keinen Steriliumnebel hat, damit du diesen Drek loswirst.“
Alice' mitternachtsfarbene Augen hatten die Größe von Golfbällen, als sie ein Frühstück beim Soybucks und eine Dusche später von Everett aus südwärts nach Downtown fuhren und ihr Blick sich auf die vom orange-abgasgrau dämmernden Morgenlicht erhellte Skyline richtete, hinter der majestätische, weiß glasierte Gipfel des Mount Rainier aufragte, eingefangen in dichtem Schneetreiben. Die penetranten Werbeüberlagerungen der Augmented Reality intensivierten sich zu wuchernden Kaskaden virtuellen Feuerwerks, die konsumbesessene Psyche ihrer im fiebrigen Kaufrausch gefangenen Nutzer anfachend, je näher sie dem Zentrum der Stadt kamen. „Also, die Besprechung findet gleich statt, wir haben alles nötige Informationsmaterial bekommen. Es gibt einen Kontakt in Übersee, der möchte, dass ich deine Vorgehens- und Verhaltensweise evaluiere, also...“, Jack brach den Satz ab, als er bemerkte, dass sein junger Schützling ihm in etwa so viel zuhörte wie einem Trideowerbespot. „Diese Stadt lebt“, kommentierte Alice geistesabwesend das emsige Geschehen auf der anderen Seite der leicht beschlagenen Fensterscheibe des Ford Americar, an dem sie sich gerade ihre Stupsnase platt drückte. „Ja, das Geschwür metastasiert bereits“, brummte Jack nur teilnahmslos und wich einem Sonntagsfahrer aus, dessen Gridlink offenbar Probleme machte. „Und man kauft das Essen einfach in diesen Märkten? Oder in... Restaurants? Keine Tauschgeschäfte? Keine rationierte Ausgabe?“ „Hör mal, Alice, wenn du etwas wissen willst, solltest du auch in einer Geschwindigkeit fragen, in der man dir eine sinnvolle Antwort geben kann. Darüberhinaus kann ich zwar verstehen, dass du es furchtbar faszinierend findest, wie leicht man hier an verschiedene Ressourcen kommt, aber du hast erstens auch noch nicht den östlichen Teil der Stadt und die Slums in Puyallup im Süden gesehen, und zweitens gibt es ein paar wichtigere Dinge, die du wissen solltest, wenn wir das hier angehen, bevor ich dir beibringe, wie man Energydrinks oder hässliche, in Nanofabrikation aus alten Plastiktüten gefertigte Overalls aus Automaten zieht.“ Jacks Stimmlage hatte sich ein wenig geändert. Er hatte sie nicht durch die halben UCAS und zwei Indianerstaaten herbringen lassen, um ihr die „Zivilisation“ der konzerndiktierten Regionen nahe zu bringen, wie es sie in ihrer Heimatstadt nicht mehr gab. Alice schwieg. „Also, es ist kurz vor Weihnachten, die Leute kaufen wie bescheuert, um in letzter Minute noch Geschenke für das Jahrestreffen mit der Verwandtschaft zu haben. Natürlich sind die Kons vorbereitet, immerhin ist das hier ihre Party, aber in all dem Konsumwahn werden häufiger Mal Dinge übersehen. Zum Beispiel eine Lkw-Lieferung mit High Tech Optronik, die in zwei Tagen in Tacoma angeliefert wird.“ „Die wir stehlen werden?“, fragte Alice monoton und wandte ihren Blick vom Seitenfenster zu ihm. Jack nickte und setzte seine Erläuterungen fort: „Was ich bereits sagen wollte, wir fahren jetzt noch einen weiteren netten Herren abholen und treffen uns dann mit dem letzten Teammitglied zur Besprechung in Milton, in der Nähe unseres Zielpunktes. Dafür müssen wir allerdings durch einige Gebiete in Downtown, in denen die Wände Augen haben, wortwörtlich, und Knight Errant ziemlich aufmerksam ist.“ Sie sah ihn fragend an. „Knight Errant?“ „Der lokale Sicherheitsdienst. Wie bei uns damals in der Arkologie, der Verein, bei dem ich gearbeitet habe. Nur fieser, rassistischer und besser bewaffnet. Du bist gewissermaßen illegal hier. Daher hab ich was vorbereitet...“ Er langte wieder in seine Anzugjacke und warf ihr ein kleines Gerät zu, das sie behände auffing. „Auf dem Kommlink ist eine Systemidentifikationsnummer, mit der du dich ausweisen kannst. Solang du hier bist, vorausgesetzt, du gehst bei der Aktion nicht drauf, ist dein Name Lily Mayflower, und du bist Kopfjägerin auf freischaffender Basis im Dienste dieser großartigen Nation, der United Canadian and American States.“ Seine Stimme troff derart vor Sarkasmus, dass man ihn in Flaschen abzapfen und an mittelmäßige Alleinunterhalter verkaufen könnte. „Kopfjägerin?“, fragte Alice verwirrt. „Eine der Berufungen, die sich bestens eignen, um den Besitz und das öffentliche und offene Tragen von registrierungspflichtigen Waffen und Augmentationen glaubhaft zu machen. Oder wärst du mit deinem Chromarm und dem Cyberdeck lieber eine Tänzerin gewesen?“ Er schnaubte und lachte leise über seinen eigenen Spruch. „Denk dran, den Mist immer auszustrahlen, sobald wir in Downtown sind. Wir wollen keine unnötigen Fragen.“
Orange beobachtete geduldig, wie die Schweinefleischklumpen langsam im Wasser des Aquariums herabsanken und einen hauchfeinen, roten Schleier darin verteilten. Blitzartig schnellte etwas heran und verwandelte die Überreste in einem blasenwerfenden Spektakel in winzige blutige Fetzen. „Wusstet ihr, das Schweinefleisch in Geschmack und Konsistenz dem von Metamenschen am ähnlichsten ist?“, fragte sie halblaut, den von einer ballistischen Schutzbrille abgeschirmten Blick nach wie vor nicht vom blutrünstigen Geschehen im gläsernen Wassertank abwendend. „Hört man so, ich frag mich nur viel mehr, warum man sich ein ganzes Zooaquarium voll mit erwachten, fleischfressenden Amazonasfischen halten sollte. Die Kosten für Frischfutter und das künstliche Klima sind wahrscheinlich immens. Nur damit man ihnen bei etwas zusehen kann, was man auch täglich bei den Jagdrudeln der Ghule in Redmond sieht.“, meinte Jack in einem Tonfall, mit dem er das eigentümliche künstliche Habitat direkt hätte trocken legen können. Die Frau davor wirbelte auf ihrem Fersenabsatz zur mit Plastahl verstärkten Eingangstür, die gerade Jack in Begleitung von einer Jugendlichen und einem unauffälligen, mit der typischen Bohnenstangenstatur seines Metatyps ausgestatteten Elfen betrat, dessen Kleidung der modernen Variante klassischer Stammesbekleidung der Salish entsprach.
„Jack. Das ist Alice, von der du erzählt hast, nehme ich an?“ Die Waffenhändlerin dehnte ihre Worte auf seltsame Weise zum Ende hin und zeigte zwei Reihen verchromter, spitzer Zähne. Jack nickte. „Und das ist... äh, Waches Wiesel, ähm... Prey war nicht anzutreffen, obwohl ich ihm klar gemacht hatte, dass ich ihn für den Job haben will. Den hier haben wir unterwegs kurzfristig von einer dieser Indigenen-Gangs aufgesammelt. Er hat schon das eine oder andere Ding durchgezogen und hat als Schamane zumindest keinen schlechten Ruf.“ Waches Wiesel schien von dem abfälligen Gerede nicht sonderlich beeindruckt und lächelte Orange stattdessen freundlich an, die ihn mit einem Seitenblick und einem hastigen Nicken zur Kenntnis nahm. „Alice... man sagt, du seist unerfahren in diesem Geschäft, aber talentiert.“, sagte sie, machte einige Schritte auf das Mädchen zu und packte sie am Kinn. „Hey, was zum...!“ „Ein bisschen jung vielleicht, aber ich habe den ersten Mann auch mit zwölf getötet.“ Jack schob sanft, aber bestimmt ihre Hand wieder weg. „Das spielt keine Rolle. Sie hat mehr durch als die meisten anderen Konzernkids in ihrem Alter, und es wird ein leichter Job. Also reg dich ab, Orange.“ Alice legte den Kopf schief, in ihrem bleichen Gesicht eine Mischung aus Verärgerung und Belustigung. „Ich kann für mich selbst sprechen, danke, Jack. Und ich kann auch auf mich selbst aufpassen.“ „Na, wenn du meinst...“ Die Frau lachte, und die Schattierungen ihrer sich dabei bildenden Grübchen ließen ihr Gesicht ein wenig wie einen Totenschädel anmuten. „Warum nennt man dich Orange?“
Die Angesprochene kicherte und ging wieder zu ihren aquatischen und gefräßigen Haustieren. „Ich habe, als ich ein paar Jahre älter war als du, im Gefängnis drüben in Hollywood Süßigkeiten reingeschmuggelt.“ Alice sah sie ungläubig an. „Süßigkeiten?“ „Ja, es gab dort im Frauentrakt einen Gangboss, die war ganz versessen auf Süßkram. Ich hab sie ihr beschafft, dafür haben ihre Schlägerinnen die Finger von mir gelassen. Als ich mir ihr Vertrauen erarbeitet hatte, schnitt ich ihr die Pulsadern auf und ließ sie an einigen verknoteten Bettlaken von einem Gitter in den Innenhof baumeln, wo sie vor ihren Freundinnen ausblutete. Danach übernahm ich ihre Gang und schmuggelte weiter Süßigkeiten, nur enthielten sie diesmal Bliss, Jazz, Novacoke und das ganze Zeug. Halluzinogene sind besonders beliebt, weißt du, weil ihre Benutzung medizinisch schwer nachweisbar ist“, erzählte sie, als wäre sie bei einem Kaffeekränzchen am Sonntagnachmittag und plaudere über ihren Alltag. Alice sah aus, als bereute sie die Neugier, die sie zu ihrer Frage veranlasst hatte. „Aber... was hat das mit der Farbe zu tun?“ „Orange sind die Overalls, die man im Knast trägt“, schaltete Jack sich ungehalten ein, „alte Geschichten können wir später erzählen. Lasst uns den Plan ausarbeiten. Wir haben einen Job durchzuziehen!“
„In Chicago kann man nachts fast immer die Sterne sehen, wenn keine Smogwolken aus dem Osten herüber ziehen“, murmelte Alice. „Hier sind die Lichtverschmutzung und die Überlagerungen der Augmented Reality zu stark“, erklärte Jack und saugte mit zusammengekniffenen Lippen an der aufglimmenden Ares Black Label. Ein feiner Rauchfaden kräuselte sich seine Lippen entlang und verschwand im diffusen Schleier des nächtlichen Zwielichts. Sie standen in einer schmalen Gasse, in der ihnen eine beeindruckend fette Teufelsratte von der Größe eines kleinen Hundes und einige Müllcontainer, deren stinkenden Inhalt vorige Angehörige der heimischen urbanen Fauna über den ganzen, schneebedeckten Pflasterstein verteilt hatten, als einzige Gesellschaft leisteten. Die olfaktorischen Aromen von Metall und metamenschlichem Dreck waren allgegenwärtig, und die Luft schmeckte nach Angst, Abgasen und dem nächsten sauren Schneefall. „Wie kommt es, dass du wieder hier arbeitest? In den Schatten?“, zerbrach Alice unverblümt die eintretende Stille. „Soweit ich weiß, hat es deine SIN beim Crash nicht erwischt. Du bist immer noch im System. Solang, wie du für Yamate... ich meine, Evo gearbeitet hast, hättest du sicherlich andere Optionen gehabt.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an und lehnte sich an die graffitiverschmierte Wand. „Diese Straßen sind mein Zuhause. Wir können uns nicht aussuchen, wer wir sind, nur das Beste draus machen. Das weißt du wahrscheinlich besser als ich.“ Er inhalierte ein weiteres Mal heftig und pustete den Rauch gegen eine fallende Schneeflocke. „Wir können uns aber aussuchen, ob wir diese Welt zu einem besseren Ort machen wollen, als wir ihn vorgefunden haben“, meinte Alice mit fast schon naiver Zuversicht. Jack lachte nur, und eine Nuance seines trockenen Sarkasmus war zu hören. „Geh den Plan noch mal durch. Was ist deine Aufgabe?“ Die Nachwuchsrunnerin seufzte entnervt. „Ich greife den Fahrer des Lkw matrixseitig an und übernehme Kontrolle über den Transporter. Orange und die bezahlte Gang beschäftigen die Konvoifahrzeuge, du schaltest die physische Begleitsicherheit aus.“ Sie memorierte für einen Sekundenbruchteil. „Dieser... Waches Wiesel erledigt den Wachgeist. Wir aktivieren den Störsender, bringen den Lkw zur Garage, laden dort die Fracht in einen anderen Transporter und löschen alle RFIDs, die wir finden. Danach geht es weiter zum Übergabepunkt.“
Jack nickte bestätigend. „Sehr gut. Was ist mit der Polizei?“
„Die Reaktionszeit von Knight Errant beträgt im Schnitt zehn Minuten, Orange wird sie weglocken, sobald die Cops auf den Plan treten.“
Nicken.
„Planmäßig geht es los in... fünf Minuten und... zwanzig Sekunden. Kommunikation eine Minute vor Beginn.“
Der ehemalige Konzernoffizier zeigte ihr den gereckten Daumen.
Sie schwiegen einige Minuten, bis sich in ihren Neuralinterfaces ein Kommunikationsfenster öffnete. „Wir starten nun die Ablenkung, der Truck ist gleich bei euch“, knisterte Orange' gedanklich übertragene Stimme in der Matrix. Jack gab Alice ein Zeichen, die sich hinter eine Mülltonne kauerte. Ein Glasfaserkabel verschwand in einer ihrer Datenbuchsen, von ihrem schwarzen Haar verdeckt, und ihre Lider begannen zu flattern, als ihr Geist in die virtuelle Realität eintauchte und sich vollständig den pulsierenden Datenströmen der Matrix hingab. Jack entsicherte sein Sturmgewehr. Initialeinblendungen der intelligenten Zielerfassung, Munitionszähler und Hitzemonitore tauchten in seinem Sichtfeld auf. Es war länger her, dass er selbst im Einsatz gewesen war und nicht einfach Aufgaben delegierte, aber der raue gummierte Griff und das Gewicht der Waffe waren wie alte Freunde, zu denen auch nach langen Jahren kein Vertrauen gebrochen war. Er postierte sich hinter einem weiteren Container, legte an und wartete, aufmerksam durch das holografische Visier spähend.
Die Welt wurde zu einem grauen, dumpfen Sumpf. Emotionen wandelten sich zu Farben, als reflektiere die Erde ihr Bewusstsein an den Häuserfassaden, dem Asphalt der Straße und all den Metamenschen und anderen Wesen, die sie mit Leben anreicherten. Er war ganz leicht, und doch spürte er eine gewichtige Kraft, mit der all diese Verbindungen an ihm zerrten und ihm zuflüsterten, kreischten, sich an ihn schmiegten und ihn mit dem Willen aller Seelen, die durch diesen Raum mit ihm interagierten, ein wisperndes Band schufen, ein unausgesprochenes Einverständnis, das denjenigen, die ihren Stimmen lauschten, ihre Macht verlieh. Waches Wiesel öffnete seine astralen Augen und richtete sie auf den großen, grauen Klumpen, der in den zähflüssigen, farblosen Schlieren der toten Straße entlangkroch. Eine hell lodernde Präsenz, ein Donnervogel mit Gefieder von der Farbe frisch gefallenen Schnees und dem Temperament brodelnder Sturmwolken, glitt mit lautloser Anmut über den Lkw hinweg und spannte von seinen gewaltigen Schwingen ausgehend ein feines Netz um diesen, um ihn vor plötzlichem Pech und Unglück, herbeigeführt durch den Widerwillen anderer Geister, zu bewahren. Ein Wesen der Luft. Einer derart mächtigen Kreatur war Waches Wiesel bisher noch nicht begegnet. Er sammelte seine Willenskraft und tastete nach der mystischen Verbindung zur Geisterwelt; hier im Astralraum brauchte er nur noch metaphorisch als auch wortwörtlich seine Augen zu öffnen, um sie zu wahrzunehmen, und bat eine Tierseele aus der Nachbarschaft, ihm zu helfen. Dieser Feind würde all seine Kraft einfordern.
„Jack? Jack? Hörst du mich!?“, dachte Orange, und ihr Neuralinterface übertrug es in eine Nachricht, die durch den offenen Kanal in der Matrix zur angesprochenen Person geschickt und ausgegeben wurde. „Was ist los?“, antwortete dieser ihr auf der anderen Seite. Eine Salve verteilte kleine Asphaltsplitter auf der Frontschürze des martialisch anmutenden Fahrzeugs, in dem sie saß. Dicke Platten aus Plastahl waren an die Kotflügel, Heck und das Dach des kaum noch als solches erkennbaren Muscle Cars geschweißt und gehämmert worden, aus den Felgen sprossen wirbelnde, stählerne Zacken und über der abgefrästen Dachhaube thronte ein montiertes Maschinengewehr, das mit dunklem, lautem Stampfen fortwährend großkalibrige Kugeln ausspuckte. Die Gangerin neben ihr, die es hielt, lachte manisch und grinste, als würde ihr der Fahrtwind die Haut vom Kiefer schälen. „Etwas stimmt mit der Spruchschleuder nicht, kurz nachdem er vorhin abgetaucht ist, hat er angefangen zu zucken, und letzt läuft ihm Blut aus allen Öffnungen und er rührt sich nicht mehr. Kann sein, dass ihr Geisterprobleme bekommt“, teilte Orange monoton mit, einen raschen Blick in den Rückspiegel werfend, um den Zustand des Schamanen zu bestätigen, und raste mit kreischenden, kettenbewehrten Reifen eine scharfe Rechtskurve entlang. „Drek!“, fluchte Jack. „Okay, alles klar. Ihr bleibt beim Plan. Komm mir ja nicht auf die Idee, mir jetzt helfen zu wollen, und die Cops herzuführen. Die physische Sicherheit ist betäubt. Versucht mir bitte, niemanden zu töten.“ Etwas krachte, und die Frau neben ihr sackte schlaff auf ihren Sitz. Orange wendete den Kopf und warf ihr einen schnellen, gleichgültigen Blick zu. „Ja, wir werden sehen... Wer von uns beiden ist hier der Profi, und wer war fünfzehn Jahre nicht im Geschäft, hm?“, entgegnete sie provokant. „Lass die mal meine Sorge sein. Ihr schaukelt das schon.“
Alice tauchte aus der VR auf. Klamme, kalte Flecken hatten sich überall auf ihrer Kleidung gebildet, wo Schneeflocken auf ihr gelandet waren, als sie bewegungslos an den Container da gesessen hatte. „Wir haben Kontrolle über den Lkw, kurzfristig“, sagte sie digital, und richtete sich auf, dabei rasch die herrschende Situation erfassend. „Keine Zeit“, rief Jack ihr zu, der neben dem Lkw stand, über dem sich gerade etwas verdichtete, was aussah wie die Miniaturausgabe eines grollenden Gewitterhimmels. „In den Lkw, ich übernehme das da“, befahl er ihr, diesmal tatsächlich und nicht über ihren Kommkanal, und Alice lies sich die Anweisung kein zweites Mal verlauten. „Halt dich an den Plan!“ Lichtblitze und elektrische Entladungen stoben aus der Wolkenfront und tanzten am Metall der nahen Straßenlaternen entlang, die daraufhin stroboskopartig zu flackern und flimmern begannen. Das Kreischen eines Tieres war zu hören, als wäre es weit weg und doch nahe, wie aus einer fremden, verzerrten Realität, begleitet von Brausen eines Windes, der den Schnee in einem zylindrischen Gebilde wie ein wütender Blizzard emporschraubte. Der mit Frost und Reif bedeckte Flügel eines riesigen Vogels schälte sich aus den Wolken, auf die Jack stakkatoartig feuerte. Alice hechtete zur Tür des Transporters und riss sie auf. Ihr künstlich verstärktes Herz raste in einer absurden Geschwindigkeit, als wolle es jeden Moment aus ihrer Brust brechen. Sie zerrte den Rigger aus seinem Sitz, ließ sich selbst darin fallen und fummelte hastig ihr eigenes Kabel in den Datenport des Fahrzeugs. Jack fluchte draußen beinahe ebenso ununterbrochen wie die Salven seines Gewehrs hämmerten, mit dem widernatürlichen Kreischen des Geistervogels zu einem gewalttätigen Nachtkonzert abgemischt. Sie wagte nicht, in den Spiegel zu sehen, als sie den noch laufenden Motor auf Hochtouren brachte die schneebedeckte Straße herab sauste.
Auch wenn es nur wenige Minuten waren, ehe die Kampfgeräusche in der Ferne verklangen, kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie das vereinbarte Lagerhaus erreichte. Es war absolut still, und sie war die einzig Anwesende, als sich das Garagentor ratternd hinter ihr schloss. „Dann wollen wir mal sehen“, murmelte sie geistesabwesend zu sich selbst, öffnete den Verschlag und machte sich an einer der Kisten zu schaffen. So, wie es gelaufen war, hatte sie alle mal das Recht, ein klein wenig mehr über den Inhalt der entwendeten Kisten zu erfahren. Sie entfernte geübt die Abdeckung des magnetischen Verriegelungsmechanismus und nestelte einige Augenblicke an den Kabeln, ehe die Anzeige auf grün sprang. Vorsichtig ließ sie die Verschlüsse aufschnappen und hob den Deckel. Ein Stoffschwein grinste ihr entgegen. Daneben ein Papagei, und daneben ein grimmiger Adler. „Stofftiere... was zum?“ Langsam dämmerte es ihr. „Natürlich... High Tech Optronik. Intelligente Spielzeugdrohnen.“ Sie spürte, wie ihre Atemfrequenz wieder anstieg, als Wut in ihr hochkroch. „Scheiß doch auf die Nuyen, ich hab eine bessere Idee“, murmelte sie und verfasste eine kurze Nachricht auf einem Datenchip, die sie für Jack und Orange hier ließ, falls diese hier später eintrafen.
Sie beeilte sich mit der Verladung der Ware in das andere Fahrzeug, aber dies ungeplanterweise allein zu bewerkstelligen dauerte doch bedenklich lange. Sie besah sich die eingespeicherte Karte von Seattle, gab eine Adresse an der offiziellen Stadtgrenze ein, stellte das Fahrzeug auf Autopilot und machte sich an das Löschen verfolgbarer Marker, während sie bereits ihre Fahrt in Richtung Osten antrat.
„Sie hat was!?“, fragte Jack entgeistert. „Halten Sie bitte still, während ich die synthetische Haut appliziere“, wies ihn der Straßendoktor an. Orange lachte, und es klang für ihre Verhältnismäßigkeit beinahe herzlich. „Sie ist mit der Beute geradewegs nach Redmond, hat eine komplette Tour durch die Barrens gemacht und jedem Kind unterwegs eines der Spielzeuge geschenkt. Nenn es weihnachtliches Glück, aber sie und der Wagen kamen sogar in einem Stück zurück.“ Sie räumte unachtsam medizinisches Gerät von einer Ablage und setzte sich. Die Lage schien sie ungemein zu belustigen. „Ihr Reflexbooster hat einige Schäden abbekommen, das kann in Zukunft hin und wieder zu motorischen Störungen führen. Ich kann ihnen etwas verabreichen, was das wieder normalisiert und der Gefahr epileptischen Anfällen vorbeugt.“, teilte der Doc Jack mit, ohne darauf zu achten, was die beiden besprachen. Ärztliche Schweigepflicht hatte, wenn man eine Schattenklinik betrieb und regelmäßig mit Psychopathen und Berufskriminellen in Verbindung trat, vollkommen andere Bedeutungsausmaße, und die Existenz akustischer Filterimplantate erleichterte die Arbeit in dieser Hinsicht ungemein. „Dieser Schamane ist also tot und ich wäre es fast, damit sie ihre sinnlosen Weltverbesserer-Fantasien ausleben kann?“ Jacks sonst immer so spöttisch erscheinende Stimme schienen jeden Sarkasmus verloren zu haben und klang eher wie das Ticken einer Bombe. Orange hob beschwichtigend die Hände. „Es kommt noch viel besser. Sie hat den Lkw zu einem Fahrzeugdealer gebracht, den sie ohne jegliche Hilfe aufgespürt hat, den Computer und die Besitzer-ID umgeschrieben, den Wagen verkauft und das Geld in einem Schließfach hinterlegt. Der Code lässt sich aus den Anfangsbuchstaben der in ihrer Nachricht enthaltenen Worte ablesen, ich hab es schon ausprobiert.“ Die Frau schwenkte grinsend einen Credstick. „Wir gehen also nicht leer aus, sie kann ihr Gewissen beruhigen, und, nun ja, du weißt, für was für Leute ich arbeite. Die mögen ihren moralischen Anspruch.“ Jack brummte unzufrieden, aber in seinen Augen zeichnete sich leichtes Erstaunen ab. „Ja, du arbeitest für Terroristen.“ Orange hob nur die Schultern. „Nenn es wie du willst. Leute kämpfen besser, wenn es ihnen um etwas geht, was ihnen was bedeutet, und nicht nur um Geld, das kannst selbst du nicht abstreiten.“ Jack nickte, langsam nachdenklich werdend. „Sie sollte trotzdem aus der Stadt verschwinden. Der Käufer, Mr. Johnson, ist vorsichtig ausgedrückt nur leidlich zufrieden mit unserer geleistet Arbeit. Aber zum Glück haben wir dahingehend ja bereits Arrangements getroffen.“
„Ja, das haben wir...“, meinte sie, „aber du solltest dich erstmal ausspannen. Ich hörte, du hast eine Menge Schnee für deine Feier bestellt...“
Sie warf ihm den Credstick zu, der auf seiner Brust landete.
„Frohe Weihnachten.“